Fehlbildungen in Bayern

Gamma Hintergrundstrahlung in Sübbayern vor (oben) und nach (unten) Tschernobyl
(aus: E. Lengfelder. Strahlenwirkung, Strahlenrisiko. ecomed verlagsgesellschaft (1990) ISBN 3-609-63260-7)

 

Daten der Prävalenz von Fehlbildungen bei der Geburt wurden im Auftrag des bayerischen Umweltministeriums an den bayerischen Kinderkliniken nachträglich für den Zeitraum 1984-1991 erhoben. Jeder Fall wurde mit Diagnose, Geschlecht, Tag der Geburt, und Wohnort der Mutter erfasst. Von einer Gesamtzahl von 29.961 Neugeborenen mit Fehlbildungen, wurden nur 7.171 Fälle für die Datenanalyse zugelassen, die restlichen Fälle wurden vom Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) aus verschiedenen Gründen als ungeeignet für epidemiologische Untersuchungen betrachtet, und deshalb aus dem Datensatz entfernt.

Mit Hilfe von Helmut Küchenhoff, Statistikprofessor an der Universität München, gelang es mir, vom BfS die bayerischen Fehlbildungsdaten zur Auswertung zu erhalten. Auch die Daten der Cäsium-Bodenkontamination in den 96 bayerischen Landkreisen wurden vom BfS zur Verfügung gestellt.


Odds ratios der Fehlbildungen in Süd- und Nordbayern

Die bayerischen Fehlbildungsraten zeigen im Jahr 1987 keinerlei Abweichung vom langjährigen Trend (siehe Abbildung 1). Nach dem Stand des strahlenbiologischen Wissens ist ein Strahleneffekt auf die Fehlbildungsrate auch nicht zu erwarten, da Strahlenschäden des Fötus, sogenannte teratogene Strahlenwirkungen, erst oberhalb einer Schwellendosis von ca. 100 mSv erwartet werden, 2-3 Größenordnungen größer als die geschätzte Zusatzdosis im ersten Folgejahr nach Tschernobyl in Bayern.

Abb.1: Monatsdaten der Fehlbildungsraten in Bayern und Trendlinie

 

In einem zweiten Anlauf verfolgte ich einen ähnlichen Ansatz, wie er dem Vorgehen der BfS-Studie von 1994 zu Grunde lag. Ich verglich die Fehlbildungsraten in Südbayern mit denen in Nordbayern, und bildete dazu die odds ratios der Fehlbildungsraten in Süd- und Nordbayern. Die Cäsium-Bodenbelastung war in Südbayern nach Tschernobyl ca. viermal höher als in Nordbayern (siehe Abbildung 2). Deshalb erwartet man in Südbayern (Regierungsbezirke Oberbayern, Niederbayern, Schwaben) - wenn überhaupt - einen größeren Strahleneinfluss auf die Fehlbildungsraten als in Nordbayern (Regierungsbezirke Oberpfalz, Oberfranken, Unterfranken, Mittelfranken). Die odds ratios und die zugehörigen Standardabweichungen werden in ähnlicher Weise berechnet wie weiter oben für Belarus.

Abb.2: Verlauf des Verhältnisses der Fehlbildungsraten in Südbayern zu den Raten in Nordbayern (odds ratios) und Trendlinie.


Im November und Dezember 1987, sieben Monate nach dem zweiten Maximum der Cäsiumbelastung der werdenden Mütter im April und Mai 1987 sind die Fehlbildungsraten in Südbayern nahezu doppelt so hoch wie in Nordbayern.


Erweiterter Cäsiumterm

Bisher basierte die Berechnung der Cäsiumbelastung der werdenden Mütter lediglich auf dem Milchpfad; andere Nahrungskomponenten wurden vernachlässigt. Diese Vereinfachung mag für die Auswertung der deutschen Daten der Perinatalsterblichkeit akzeptabel sein, weil 1986 nahezu die Hälfte der in Westdeutschland konsumierten Milch aus Bayern kam. In Bayern waren aber auch andere Nahrungsmittel aus lokaler Produktion höher belastet. Deshalb sollten sie bei einer Berechnung der Cäsiumbelastung der Schwangeren mitberücksichtigt werden.

Im Jahr 1986 veröffentlichte die GSF eine Dosisprognose, die auf Rechnungen mit dem Programm ECOSYS beruhte. In dieser Rechnung wurden neben Milch noch drei weitere Nahrungsbestandteile berücksichtigt: Rindfleisch, Schweinefleisch und Getreide. Bei Kenntnis des Zeitverlaufs der Cäsiumkonzentration in diesen Nahrungsmitteln lässt sich, unter Berücksichtigung der jeweiligen mittleren Verzehrraten, der Zeitverlauf der Cäsiumbelastung in den Schwangeren besser annähern. Das Ergebnis dieser Rechnung zeigt Abbildung 3. Es zeigt sich, dass das zweite Maximum der Cäsiumbelastung im April und Mai 1987 höher ist als das erste Maximum im Juni und Juli 1986.

Abb.3: Monatsmittelwerte der Cäsiumkonzentration in den Schwangeren in den Jahren 1986-1988.

 


Zusammenhang zwischen odds ratios und Cäsiumkonzentration

Um einen möglichen Zusammenhang der odds ratios mit der Cäsiumkonzentration zu untersuchen, wird eine Regression der odds ratios mit dem Modell

E(ln(OR)) = β12·t +β3·cs7(t) +β4·cs7(t)²

durchgeführt. Hier ist cs7(t) der neue, um 7 Monate verzögerte Cäsiumterm. Der linear-quadratische Ansatz sorgt für eine flexible Modellierung der Dosis-Wirkungsbeziehung. Die Regression ergibt eine Summe der Fehlerquadrate von 102,4 (df=92). Ohne die Cäsiumterme erhält man 111,3 (df=94). Damit ist der Cäsiumeffekt signifikant (p=0,0213, F-Test). Eine Regression mit einem linearen Cäsiumterm gibt keine signifikante Verbesserung der Anpassung gegenüber dem Modell ohne Cäsiumterm.


Zusammenhang der Fehlbildungsraten mit der Cäsium-Bodenkontamination

Oben wurde gezeigt, dass die Fehlbildungsraten im November/Dezember 1987 in Südbayern nahezu doppelt so hoch sind wie in Nordbayern. Weil sowohl die Daten der mittleren Cäsiumbelastung als auch der Fehlbildungsraten auf Landkreisebene vorhanden sind, kann die Abhängigkeit der Fehlbildungsraten im November/Dezember 1987 von der Cäsiumbelastung genauer untersucht werden.

Wieder werden odds ratios berechnet, jetzt aber für das Verhältnis der Fehlbildungsraten im November+Dezember 1987 zu den Fehlbildungsraten in den Jahren 1984-1986 und 1988-1991. Damit werden möglicherweise vorhandene systematische Unterschiede zwischen den Landkreisen kompensiert. Die Landkreise werden nach aufsteigender Cäsiumbelastung geordnet, und jeweils 6 Landkreise zu einer Gruppe zusammengefasst. Mit diesen Daten wird nun eine lineare Regression mit dem Modell

ln(OR) = ln(β12·cs(k))

durchgeführt. Hierbei ist cs(k) die mittlere Cäsiumbelastung in Gruppe k (k=1,..,16).

Die Schätzwerte für die Parameters sind β1 = 0,32 ± 0,16 und β2 = 0,0377 ± 0,0109. Die Abhängigkeit der odds ratios von der Cäsiumkonzentration ist deutlich signifikant (p=0,0038).

 

Abb.4: Verhältnis der Fehlbildungsraten (odds ratios, OR) in den bayerischen Landkreisen in den Monaten November+Dezember 1987 zu den Raten in den Jahren 1984-1991 ohne 1987 in Abhängigkeit von der Cäsium-137 Bodenbelastung (ein Datenpunkt entspricht 6 Landkreisen). Die gepunktete Linie markiert OR=1. Bei niedrigen Cäsiumbelastungen sind die odds ratios kleiner 1, d.h. die Fehlbildungsraten sind kleiner als erwartet, bei hohen Cäsiumbelastungen sind sie deutlich erhöht.



Kombinierte räumlich zeitliche Analyse

In den beiden vorhergehenden Abschnitten wurde der Zusammenhang mit dem zeitlichen Verlauf der Cäsiumbelastung der Schwangeren und die räumliche Abhängigkeit der Fehlbildungsraten von Cäsium-Bodenkontamination getrennt untersucht. Helmut Küchenhoff schlug nun vor, eine kombinierte räumlich-zeitliche Analyse der Fehlbildungsraten vorzunehmen. Sie wurde in Wintersemester 2001/2002 am statistischen Institut der Universität München durchgeführt. Dazu wurde ein neuer Cäsiumterm cs(k,t) definiert, das Produkt aus der Cäsium-Bodenkontamination cs(k) im Landkreis k (k=1, .., 96) und der oben definierten um 7 Monate zeitlich verzögerten Cäsiumbelastung cs7(t) der Schwangeren. Eine Regression mit einem linear-quadratischen Modell ergab eine signifikante Beziehung zwischen Fehlbildungsraten und Cäsiumbelastung (p=0,0152, F-Test), die charakterisiert ist durch einen Rückgang der Fehlbildungsraten bei kleinen bis mittleren Cäsiumbelastungen und einen steilen Anstieg bei höheren Cäsiumbelastungen.